Mehr als 30 Jahre sind mittlerweile vergangen, seitdem der alte Ackerhof am Nordrand des kleinen Dörfchens Adelem mit allen Stallungen und Scheunen abgerissen wurde und die Gras- und Wirtschaftsgärten planiert worden sind, um einer Reihenhausbebauung Platz zu machen. Blicken wir aus diesem Anlass zurück in das 16. Jahrhundert, als der Hof erstmals aus dem Dunkel der Geschichte auftauchte. Und verfolgen wir das Leben der Bewohner, soweit es uns mit Hilfe der vorhandenen Dokumentationen noch möglich ist.

Für diesen langen Spaziergang bis hinein in unsere Zeit auf der Grundlage der 1983 von Frau Irmgard Angerstein ver-öffentlichten Geschichte des Dorfes Ahlum wünsche ich Ihnen viel Vergnügen.

Manfred Frohse

 

 

Wedderkopfs Hof Top1

Die alte Heerstraße von Wolfenbüttel  war sicherlich beschwerlich  – „von der Vestung ein Halb einer Meile ins Osten“, um nach Adelem zu kommen. Vorbei an einer Windmühle erreichte man die kleine Ortschaft, die sich mit ihrer überwiegenden Bebauung nach Süden hin in eine große Senke schmiegte. An der Nordspitze gabelte sich der Weg, und man konnte, wenn man in das Ortsinnere ging, gleich links eine große Hofstelle erkennen. Wir befinden uns in der 2. Hälfte des 16. Jahrhunderts, und in Adelem, wie der Ort zu dieser Zeit meistens genannt wurde, gab es 35  Höfe. Unser Ackerhof, den wir besuchen wollen und der in den sechziger Jahren dieses Jahrhunderts dem Behrend Bremer d. Jüngeren gehörte, zählte zwar nicht zu den Größten des Ortes, war aber dennoch – nach damaligen Verhältnissen – ein „gutsituierter“ landwirtschaftlicher Betrieb. Behrend Bremer besaß 6 Hufe Land, also ca. 180 Morgen, und war dem „Hospital unserer lieben Frauen“ aus Braunschweig (Marienhospital Braunschweig, der heutigen Waisenhaus-stiftung) zinspflichtig. Übrigens als einziger Hofbesitzer in Adelem. Das Marienhospital war bereits 1305 mit 6 Hufen und später im Jahre 1392 erneut mit einem Kothof und 2,5 Hufen beschenkt worden – Grundstücke, die jetzt von Behrend Bremer bewirtschaftet werden und - wer weiß wie lange schon -  zu seinem Ackerhof gehören. Wedderkopfs Hof 01

Wenn wir übrigens vom „Besitzer“ sprechen, wissen wir, dass die Bauern bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts ihre Ländereien lediglich vom Grundherrn gepachtet hatten und hierfür einen jährlichen Zins entweder in Form von Diensten, Naturalabgaben oder Geld entrichten mussten.

Entsinnen wir uns: in Wolfenbüttel – oder besser gesagt: in Wulffenbüttel – residierte zu dieser Zeit seit 1568 der Herzog Julius von Braunschweig-Lüneburg, der die Reformation im Lande einführte und den Bauernstand dadurch unterstützte, dass er eine willkürliche Kündigung des Bewirtschaftungsrechts und eine ungerechtfertigte Steigerung der Zinsleistung an den Grundsstückseigentümer verbot. Herzog Julius war auch derjenige, der die Oker für den Floßverkehr schiffbar machen liess, erfahrene niederländische Städte- und Festungsbauer an seinen Hof holte, die die entstehenden Straßen mit einem Grachtensystem verbanden, den morastischen Untergrund entwässerten und die vorhandenen Festungsanlagen erweiterten.

Doch zurück zu unserem Ackerhof in Adelem. Wir befinden uns hier am eigentlichen Stammhof, denn nach dem Scheffelschatzregister von 1564 gehörte noch ein „wüster“ Hof mit 2 Hufen Land (südlich der Kirche) sowie ein „Kovenhof“ (etwa da, wo sich heute der Festplatz befindet) zum Grundbesitz. Bei der Hofanlage handelte es sich um ein typisches „thüringisches Wohnhaus“, das gewöhnlich 2stöckig und getrennt von Ställen und Scheunen errichtet wurde. Üblicherweise bildeten Wohnhaus, Scheune und Stall ein zur Strasse offenes Viereck, das mit Zaun und Tor abgegrenzt war. Und unser Wohnhaus war wie zu jener Zeit bei allen Bauernhöfen hier in Adelem mit der Vorderseite nach Süden vor dem sich ausbreitenden Hof errichtet worden.

Wedderkopfs Hof 02Zu Lebzeiten von Behrend Bremer war es übrigens noch nicht gesetzlich geregelt, dass ein Hof automatisch auf den Erben überging. Es war jedoch allgemein geübte Praxis, so dass unser Ackerhof am Nordrande von Adelem wohl problemlos 1580 von dem Sohn Balthasar übernommen werden konnte. Dessen Sohn Jürgen, seit 1619 verantwortlich, hatte allerdings das Pech, in eine besonders kriegerische Zeit hineingeboren zu sein. Die Wirren des Dreißigjährigen Krieges erreichten auch unsere Gegend, und was nicht die Truppen des Dänenkönigs Christian IV. nach der verlorenen Schlacht gegen Tilly bei Lutter am Barenberge zerstörten, wurde spätestens 1627 von den Kaiserlichen des Generals Pappenheim in Schutt und Asche gelegt. Unserem Ackerhof ging es nicht besser, und der Wiederaufbau war wohl jahrzehntelang nicht möglich. Noch 1648 waren 17 der seinerzeit zerstörten Gehöfte in Adelem noch nicht wieder aufgebaut. Ob Sohn Harmen Bremer seine Hochzeit im Jahre 1659 mit Elisabeth Fricke schon in den eigenen vier Wänden oder bei den Brauteltern im Burgmeierhof (dem jetzigen Grundstück der Familie Peter Schwarz) gefeiert hat, ist nicht überliefert. Unklar bleibt auch, aus welchen Gründen der Besitz der Familie Bremer wohl noch vor 1693 von Jacob Tielemann übernommen wurde. Böse Zungen behaupten, dass sein Onkel Johann Friedrich Tielemann als fürstlicher Lakai im Dienste von Herzog Rudolf August seinen Einfluss hatte geltend machen können. Auch Jacob war Lakai und sein Bruder Heinrich Julius brachte es als Schwiegersohn des fürstlich Braunschweig-Lüneburgischem Silberdieners Franz-Eberhardt Weigel sogar zum Kellermeister und  Mundschenk.

Jacobs Sohn Hans-Heinrich, eines seiner neun Kinder, erbte 1731 den Hof, zu dem mittlerweile nur noch etwa 120 Morgen Land gehörten. Als er den Betrieb nach etwa 26-jähriger Wirtschaftsführung seinem Sohn Johann Heinrich überliess, standen die Gebäude in der Brandkasse immerhin mit einem Wert von 775 Thalern, und eine Scheune war – im Gegensatz zu den üblichen Strohdächern - bereits mit Ziegeln bedeckt. Johann Heinrich war im Übrigen verheiratet mit einer der Töchter von Heinrich Matthias Goes, dem letzten männlichen Namensträger einer Familie, die bereits seit mindestens Mitte des 16. Jahrhunderts den grössten Hof des Ortes bewirtschaftete, den jetzigen Betrieb Scheel.

Wedderkopfs Hof TraktorDem Erben von Johann Heinrich -  dem gleichnamigen Sohn, der den Ackerhof etwa 1800 übernahm, war auch kein sorgenfreies Leben beschieden. Zwei Jahre nach dem grossen Brand in Ahlum, bei dem 16 (!) Höfe vernichtet wurden, brannten bei ihm in der Nacht vom 5. zum 6. August 1827 sämtliche Gebäude nieder. Zum Glück breitete sich das Feuer nicht weiter aus; lediglich der südliche Nachbarhof von Heinrich Henning Schmidt, der später von dem Stellmacher Wilhelm Wink bewohnt wurde und nun der Familie Stabno gehört, erlitt einen geringen Brandschaden. Zu dieser Zeit lasteten bereits 3000 Thaler Schulden auf dem Hof. Da das Geld der Brandversicherung für einen Wiederaufbau des Gehöfts bei Weitem nicht ausreichte, borgte sich Johann Heinrich von dem Herzöglichen Leihhaus 5000 Thaler. Die Schuldenlast wurde dadurch naturgemäss nicht geringer, und fast hätte das Klostergut etwa um 1836 das gesamte Anwesen übernommen. Es war lediglich einem Wolfenbütteler Notar zu verdanken, dass durch erfolgreiche Verpachtung eine Zwangsversteigerung vermieden werden konnte. Nach dem Tode von Johann Heinrich war es jedoch soweit: einrich war es sein ältester Sohn Hinrich Tielemann, der den Hof 1849 geerbt hatte, konnte - oder wollte auch nicht mehr, sich den stetig ändernden Anforderungen einer landwirtschaftlichen Betriebsführung stellen. Es wird von ihm gesagt, dass er als einziger hiesiger Bauer noch nicht einmal Zuckerfabrikaktien besessen haben soll …

Hinrich Tielemann verkaufte den Hof 1874 an den Gastwirt Kniehan, der jedoch nur an einer Kapitalanlage interessiert war. Es gelang ihm jedoch nicht, das Objekt als Ganzes zu verkaufen. Selbst eine Veräusserung an den Klosterhof scheiterte. Insofern wurden im Wege einer Versteigerung alle guten Äcker abgegeben, während die schlechten oder weit entfernt liegenden beim Stammhof verblieben. Diesen nun sehr verkleinerten Hof übernahm der Kotsasse Heinrich Lüddecke. Doch auch er – obwohl als Kleinbauer bereits tätig - blieb nicht lange Eigentümer. Nachdem er alles wieder einigermassen hergerichtet hatte, verkaufte er den Betrieb für 45000 Thaler an eine – wie’s zu lesen ist – Judengesellschaft, bestehend aus Gustav Lichtenstein aus Magdeburg, Albert Tasse aus Zerbst und Julius Rothenstein aus Barby. Und damit begann die vorletzte Phase der Existenz unseres Ackerhofes, auf dem wir anno 1564 zu Besuch weilten.Wedderkopfs Hof Einfahrt

Der übrig gebliebene Betrieb wurde parzelliert und an 12 Käufer veräussert. Das Gehöft selbst mit 15,5 ha kaufte 1880 der bisherige Ackergehilfe Christian Wedderkopf aus Immendorf. Von nun an ging’s wieder bergauf. Christian Wedderkopf und seine Frau Dorothea Haase aus Geitelde verstanden es, den landwirtschaftlichen Betrieb wieder in die Höhe zu bringen. Das Wohnhaus wurde innen umgebaut und modern eingerichtet, und es wird erzählt, dass dieser Hof  bald weit über dem Durchschnitt der übrigen Höfe in Ahlum lag. Im Jahre 1894 erwarb Christian von den Erben des Ziegeleibesitzers Schweinehagen den „Kündel“, ein mehr als 4 ha grosses Gelände einschliesslich Tongrube und Teich im Norden des Ortes am jetzigen Atzumer Weg, das er 1907 überwiegend wieder für Bauplätze an den späteren Domänenpächter Otto Mühlenkamp verkaufte.

Der Sohn Alfred übernahm 1919 den Hof und führte ihn nach dem Tode seines Vaters weiter. Er wurde im Übrigen als Nachfolger des Vorstehers Otto Mühlenkamp im Jahre 1933 zum Bürgermeister, wie es jetzt hiess, ernannt und hatte es wohl bis zum Kriegsende verstanden, die politischen Veränderungen mit Augenmass umzusetzen und ein gutes Einvernehmen mit der Gemeinde zu erhalten.

Wedderkopfs Hof EhepaarNach dem Tode von Alfred Wedderkopf und seiner Ehefrau Marie wurde der Betrieb zunächst von ihrem Sohn Jürgen weitergeführt. Da er jedoch den körperlichen Anforderungen auf Dauer nicht gewachsen war, liess er sich zum Fernmeldetechniker umschulen und verkaufte den Hof an den Wolfenbütteler Architekten Reinhold Friebel. Die landwirtschaftlich zu nutzenden Flächen verpachtete er an den Landwirt Peter Schwarz. Der mindestens seit Mitte des 16. Jahrhunderts mehr oder minder ununterbrochen bestehende landwirtschaftliche Betrieb mit dem Stammsitz hier an der „Hauptstrasse  ging somit seiner wohl letzten Bestimmung entgegen. Die grosse Hofstelle mit allen Stallungen und Scheunen, mit dem Gras- und Wirtschaftsgarten wurde am 3. April 1973 planiert! Bei den Abrissarbeiten wären beinahe noch einige Kinder aus dem Dorf in grosse Gefahr geraten, die in einer der leeren Scheunen gespielt hatten und erst herausliefen, als sich das Dach schon wellenförmig hob und senkte. Übrig blieb lediglich das alte Bauernhaus mit einem dahinter liegenden Garten, in das 1975 das Ehepaar Erich und Johanna Janke mit ihren Kindern Gerhard und Verena zogen.

Und was geschah mit dem restlichen Grundstück? Reinhold Friebel plante zusammen mit der  Immobilienfirma Steinberg und Co. die Errichtung von 19 Reihenhäusern, 2geschossig in 4 Blöcken, und stellte hierfür am 27.4.1973 einen entsprechenden Bauantrag. Die Erschliessung war vorgesehen über eine Hofanlage mit Einstellplätzen bzw. Garagen und über einen Rundweg, der später nach Fertigstellung – so wie ein geplanter Kleinkinderspielplatz – in das Eigentum der Gemeinde bzw. der Stadt Wolfenbüttel  übergehen sollte.

Wedderkopfs LageplanNachdem für die beiden Eckhäuser des ersten Blockes Kaufinteressenten gefunden worden waren, begannen 1973 planmässig die Bauarbeiten. Zunächst wurde noch unterschieden in Typ A und Typ B. Ursprünglich sollte jedes 2. Haus als Typ B, also mit einer um rund 5,5 qm geringeren Grundfläche gebaut werden. Da dieser Haustyp aber nicht gefragt war, änderte der Architekt im April 1974 seine Planungen und errichtete mit den nächsten Blöcken nur noch den grösseren Haustyp mit einer bebauten Fläche von jeweils 62,34 qm. Es ging alles zunächst seinen planmässigen Gang, bis man plötzlich feststellte, dass das gesamte Grundstück für die im Block 4 vorgesehenen 7 Reihenhäuser überhaupt nicht ausreichend war. Insofern mussten die Blöcke 3 und 4 nach Norden verschoben werden, es wurden nur noch 6 Reihenhäuser in Block 4 gebaut, der Garagenhof wurde schmaler, und die Gartenanlagen in den Blöcken 1 und 2 bekamen teilweise einen etwas merkwürdigen Knick. Aber sonst war alles in Ordnung – bis leider am 13.01.1977 um 9.00 Uhr völlig unerwartet das Konkursverfahren gegen den Architekten Reinhold Friebel durch das Amtsgericht Wolfenbüttel eingeleitet wurde.

Zu dieser Zeit befand sich Block 4 gerade erst im Rohbau, und der überwiegende Teil der Außenanlagen – und hier insbesondere der gesamte Garagenhof mit dem Zufahrtsbereich zur Strasse – war noch nicht einmal begonnen worden. Die seinerzeit betroffenen Hauseigentümer, die zum Teil noch nicht einmal sicher sein konnten, dass sie es auch blieben, haben nicht unbedingt die angenehmsten Erinnerungen an diese Zeit. Doch irgendwie regelt sich alles und man findet Lösungen – sogar auch bei dem nicht immer einfachen Versuch, alle Eigentümer zur Finanzierung der noch auszuführenden Restarbeiten zu bewegen. Im Herbst 1977 wurde der Gehweg vor Block 4 einschliesslich der Stufenanlagen in Auftrag gegeben, und etwa 1 Jahr später wurde der Garagenhof mit der Anbindung zur Strasse zu einem Festpreis von 34.000 DM ausgebaut. Nicht zur Ausführung gelangte der von Herrn Friebel ursprünglich geplante Kleinkinderspielplatz. Man verständigte sich letztlich mit dem Konkursverwalter Rechtsanwalt Leistikow, der Gemeinde Ahlum sowie der Stadt Wolfenbüttel auf eine Grünfläche, die zusammen mit den Wegen nunmehr in das Eigentum der Stadt überging. Mittlerweile schrieb man jedoch bereits das Jahr 1980, und es sollten noch weitere 5 Jahre vergehen, bis endlich das Konkursverfahren durch Zwangsvergleich am 15.07.1985 zum Abschluss kam.

Was noch zu erzählen bleibt, ist die Geschichte, wie diese Hofanlage zu dem jetzigen Namen kam. Die durch den Ort Ahlum führende Verbindungsstrasse nach Wendessen führte zum Zeitpunkt des Abrisses des Ackerhofes den in vielen Dörfern üblichen Namen „Hauptstrasse. Als durch die Gebietsreform im Jahre 1974 und die damit verbundene Eingemeindung plötzlich mehrere neue Ortsteile der Stadt Wolfenbüttel eine derartige Straßenbezeichnung mitbrachten, bestand die Notwendigkeit, neue Namen zu finden. Aus der „Hauptstrasse wurde daher in Erinnerung an die im 12. und 13. Jahrhundert weit verbreitete Bezeichnung des Dorfes nunmehr der „Adenemer Weg“. Und noch Mitte des Jahres 1975 waren die ersten Häuser der Blöcke 1 und 2 postalisch unter „Adenemer Weg Nr. 2 Haus 1, 2 usw.“ erreichbar. Erst danach fasste der Ortsrat den eigentlich nahe liegenden Beschluss, das öffentliche Wegenetz innerhalb der neuen Wohnanlage nach dem Namen derjenigen Familie zu benennen, die mit den letzten fast 100 Jahren der langen Hofgeschichte verbunden war.

 

Und damit verabschieden wir uns in der Hoffnung, dass Ihnen der „Wedderkopfs Hof“ (und natürlich auch seine Bewohner...) in angenehmer Erinnerung verbleiben.

Wedderkopfs Hof Ende

Willkommen in Ahlum!